Holy Shit

Auflösung des Profils

Kürzlich ist es mir wieder mal passiert: Beim Vorbereiten meiner Musik-Playlist für einen 5 Rhythmen-Abend stürzt mir der Computer ab. Playlist weg, Arbeit umsonst: „Oh Shit!“ Keine Ahnung, wie oft mir diese Worte in meinem Leben schon über die Lippen gerutscht sind. Sicher häufiger als ein freudig-angenehmes „Oh Yeahhh!“ Oder ein „Wow, was für ein Glück!“

Das heftigste Oh-Shit-Erlebnis meines Lebens ist jetzt fast ein Jahr her. Diese unvergessliche Nacht des 3. September 2017, als mein Freund Joel völlig unerwartet und ohne Erklärung vor meinen Augen ins Feuer vom Burning Man-Festival in den USA rannte. Für meinen Verstand bis heute ein Erlebnis, das auf keinen Fall hätte passieren dürfen. Was ich in den Tagen und Wochen nach seinem Tod an sinnlosen Erklärungsversuchen, Schuldgefühlen oder Schuldzuweisungen, Verunsicherung, Selbstvorwürfen und tiefsten Traueranfällen durchgemacht habe, hat mein bisher doch recht problemloses, erfolgreiches und schönes Leben ziemlich auf den Kopf gestellt. Mit der Zeit habe ich jeden Versuch aufgegeben, das Geschehen jemals gänzlich verstehen zu können. Seine Motive hat Joel mit ins Grab genommen. Es bleibt ein Mysterium.
Je weniger mein Verstand nach Erklärungen für seinen Tod sucht, desto mehr verändert sich seit dieser Nacht etwas in meinem Körper-Geist-System, das sich so anfühlt, als hätte Joel eine Art Reset-Taste gedrückt. So viele alte Programme, Gewissheiten und Glaubensüberzeugungen beginnen sich da wie von selbst auszulöschen. Das neue Programm basiert auf einer unumstösslichen Gewissheit, die mein bisheriges Angst-Handeln immer mehr ins Leere laufen lässt. Sie lautet: Das einzig Sichere im Leben ist dein Tod. Du hast keinen wirklichen Einfluss darauf, ob er heute zuschlägt, in zwei Wochen oder in 20 Jahren. So schaut er mir beim Schreiben dieser Worte zu und lacht über die Vergeblichkeit, die dieses Unterfangen hat. Es gibt keinerlei Gewissheit, ob sie jemals gelesen oder geschweige denn verstanden werden. Es ist auch nicht wichtig, denn die Worte wollen aus irgendeinem unerklärlichen Grund dennoch formuliert und an dich adressiert werden. Alles andere in meinem Leben, woran ich bisher wie an einer unerschütterlichen Gewissheit festgehalten habe, verliert zunehmend an Sinn und Bedeutung: Erfolg, Anerkennung, gute Beziehungen, viel Geld, eine gute Altersabsicherung, spirituelle Erleuchtung oder überhaupt ein möglicherweise besseres Leben motivieren mich immer weniger für mein Handeln. Die Tatsache, dass alles im nächsten Moment aus und vorbei sein kann, lässt mich manchmal in eine Leere fallen, die für meinen Verstand nur schwer auszuhalten ist. Als würde alles, was mir bisher Sinn, Halt, Orientierung und Sicherheit gegeben hat, wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen. Mein Körpersystem verspürt immer weniger Lust, unnötig Energie dafür zu verschwenden, dem Ganzen doch noch einen Sinn abzuringen oder auf eine bessere Zukunft zu hoffen. Damit bewegt er sich oft am Rande einer Depression.
Je weniger ich aber gegen diesen sinn-leeren Zustand ankämpfe, desto öfters passiert etwas Unglaubliches: Eine bisher unbewusste innere Anspannung fällt von meinem Körper ab. Festgefahrene Gedankenmuster und zwanghafte Verhaltensweisen, die ich unbewusst im Laufe des Lebens aufgebaut habe, verlieren ihre Wirkung. Als würde sich eine unsichtbare Tür aus einem inneren Gefängnis alter Glaubenssätze öffnen, das eigentlich nur in meinen Gedanken existiert hat. Aus dieser Tür hinauszugehen ohne Aussicht auf eine bessere Zukunft bringt mich an einen wehrlosen und sehr verletzlichen Ort. Dort wird es mehr und mehr zu einer Gewissheit, dass sich das pure Leben völlig unkontrollierbar nur in diesem Moment Jetzt ereignet. Weil da keine zwanghafte Notwendigkeit mehr besteht, an dem wie das Leben erscheint, etwas verändern zu müssen und es auch nicht mehr wichtig ist, ob mich ein Mensch oder eine Situation glücklich macht oder nicht, entspannt der Körper immer mehr und nimmt die Dinge wie sie sind. Er handelt leichter, ruhiger und intuitiver. Das Körperempfinden wird lebendiger, feiner, sensibler und lässt mich so viele dieser unvorhersehbaren kleinen Wunder des Lebens sehen, die in meinem starren Angstdenken und seinem Tunnelblick bisher wenig Platz hatten. Gefühle kommen schnell und heftig, lösen sich aber auch wieder so schnell auf, wie sie gekommen sind. Wenn mir etwas misslingt, weint es manchmal kurz aus mir heraus, oder mich packt eine Wut, die mich laut und unkontrollierbar ausrufen lässt. Und fällt dann schnell wieder zurück in eine stille Freude und seltsame innere Neugier, was wohl als Nächstes an Überraschung kommt. Manchmal taucht eine Ahnung auf von einer grenzenlosen und atemberaubenden Freiheit, die sich in einem: „Alles kann…, nichts muss…“ ausdrücken lässt.
Im Grunde ist das der Zustand, um den es bei den 5 Rhythmen geht: sinnfreies, spielerisches und absolut lebendiges Tanzen, Aufgeben von Kontrolle und reine bewegte Hingabe an das was ist: Das ist vergleichbar mit dem Zustand eines Kindes, das kein Wissen und keinerlei Konzepte über das Leben kennt und einfach nur in kindlichen Staunen durch die Welt läuft. Oder wie Rilke es mal formuliert hat:

Du musst das Leben nicht verstehen,
dann wird es werden wie ein Fest.

Und lass dir jeden Tag geschehen,
so wie ein Kind im Weitergehen von jedem Wehen
sich viele Blüten schenken lässt.

Rainer Maria Rilke

Nur dass dieses Kind auch einen erwachsenen Körper haben kann, der durchaus in der Lage ist, auch mit diesem Staunen in einer vernünftigen Welt so zu funktionieren, wo es angstfrei das Nötigste tut, um zu überleben.

Eines ist sicher: Es wird weiterhin viele unangenehme Oh-Shit-Momente in meinem Leben geben. Aber wer weiss: Vielleicht blubbert aus meinem Mund beim nächsten Scheitern ein entspanntes „Holy Shit“, weil das Leben mal wieder einen seiner wilden und unberechenbaren Streiche spielt, in dem es sich so verletzlich lebendig, wild, saftig und herrlich frei tanzen lässt. Jedenfalls wurde der „Oh Shit“-Tanzabend ohne vorbereitete Musikplaylist zu einem enorm wilden und freien Abend, wie das keine noch so gute Vorbereitung hätte erzeugen können.