God bless this mess

Kürzlich in der Sauna sah ich auf dem tätowierten Rücken einer Frau in riesigen Buchstaben den Spruch: „God bless this mess“. Ich musste drauf los lachen. Und hab mich über den Mut der Frau gefreut, sich lebenslang so lustvoll als „Mess“ (Chaos, Durcheinander) zu verewigen. Jeder von uns ist auf eine Weise ein seltsames Durcheinander an Gefühlen, Gedanken, Ideen, Vorstellungen, Glaubenssätzen und Konzepten. Und wir widersprechen uns darin am laufenden Band. Der Kopf denkt etwas, das Herz fühlt etwas anderes und der Körper macht etwas Drittes. Aber nirgends handeln Menschen so irrational und offensichtlich verwirrt, als wenn sie in alten Traumata fest sitzen.

Ich hab mir vorgenommen, die Feiertage übers Jahr mich einer meiner tiefsten Verwundungen zu stellen: Meinen allgegenwärtigen Verlassenheits-Gefühlen. Ich habe diese Tage bewusst viel Zeit mit mir alleine verbracht. Und tatsächlich war es manchmal mehr ein Aushalten als ein Geniessen. Ein ganzes inneres Gefühlschaos braute sich da zusammen. So ganz mit mir, ohne Familie, Freunde, Weihnachts- und Silvester-Trallala, ohne Fernsehen und all die zuckersüssen Weihnachts-Ablenkungen fiel ich mitten in einen ganz schön Einsamkeits-Hardcore-Prozess. An weihnachtlich geschmückten Häusern vorbei ziellos durch Strassen zu laufen, hinter deren Fassaden Familien in allen Varianten ihre Feiertagsrituale abhalten, hat mich vor allem mit einem meiner verwundetsten Grundgefühle konfrontiert: «Ich gehöre nicht dazu!» Auch wenn ich es therapeutisch und tänzerisch doch schon so viel hunderte Male aufgearbeitet habe: Es tut immer noch verdammt weh.

Jeder kennt dieses Kindheitstrauma auf irgendeine Weise. Als Aussenseiter, als Verlassener in einer Beziehung, als Hochsensibler, als Andersdenkender, als Schuldiger, als Mensch mit genauso vielen Fassaden wie die anderen, als Geheimnisträger mit dunklen Flecken, die man besser niemandem erzählt. Wir verhalten uns oft wie innere Flüchtlinge, die mit extremen Anpassungsleistungen alles dafür geben, um irgendwie dazu zu gehören. Wir arbeiten, obwohl wir gar nicht wollen, um finanziell nicht draussen zu stehen. Wir sind lieb und höflich, um uns nicht schuldig fühlen zu müssen. Wir heiraten aus Angst alleine zu bleiben. Wir träumen den Traum von einer Familie, oder von einer spirituellen Lebensgemeinschaft, in der wir lieben und geliebt werden können und werden darin doch so oft enttäuscht. Wir haben Angst zu sehr aufzufallen oder kritisiert zu werden und wollen gleichzeitig so inständig gesehen und geliebt werden. Wir verbringen Stunden und Wochenenden mit WhatsApp, Facebook und anderen virtuellen Netzwerken und haben gleichzeitig riesige Angst davor, auch nur einem der über 1000 Facebook-Freunde nur 30 Sek. lang in die Augen zu schauen und dabei nichts zu tun. Wahrscheinlich würde so ein Blick mehr erzählen als Tausende von Posts.

Oft kommt es mir so vor, dass ich aus meinem speziellen Verlassenheits-Trauma eine Kunst machen musste, um überleben zu können. Jedenfalls hat mich meine panische Angst vor dem Ausgeschlossen-Sein ein enormes Sensorium dafür entwickeln lassen, was Menschen wirklich verbindet. Nichts macht mich glücklicher, als wenn TänzerInnen wie in einer Familie in echter Harmonie und gegenseitiger Wertschätzung zusammen kommen. Ich liebe es, wenn sie sich in meinen Räumen ehrlich, ohne Masken, verletzlich, wild und ohne Scham und Schuld voreinander begegnen können. Es heilt mein eigenes Trauma vom Mich Abgespalten-Fühlen, wenn sie sich aus voller Lust und Freude am körperlichen Dasein im aufrichtigen Tanz miteinander wie kleine Kinder zeigen. Wenn körperlich aufgeweichte Körper ihren Schmerz mit einem tiefen Schluchzen befreien können, dann beginnt auch die uralte Ritterrüstung um meinen Schmerz zu schmelzen. Ich verliebe mich in Menschen, die wie ich manchmal voller Angst sind, schüchtern um Worte ringen und zeigen können, wenn sie nicht mehr weiter wissen. Ihre Zusammenbrüche, ihr verschmiertes Makeup und ihre zerbrochenen Träume wecken so viel Mitgefühl in mir. Und die tut einfach unendlich gut. Wenn TänzerInnen sich nach bereits einer Wave so anschauen können, als hätten sie vergessen, wer und wo sie sind, dann weiss selbst das verlassenste Kind in mir: Es war ja nur ein schlimmer Traum. Der tut weh und wirkt immer noch im Körper. Aber es gibt auch die Möglichkeit von Heilung. Und für den kann ich mich entscheiden.

Vielleicht ist der 5 Rhythmen-Raum auch nur ein schöner Traum, eine Illusion, so anders als unsere Alltagswelt. Aber er wirkt. Körperlich. Heilend.

Und vielleicht ermöglichen uns gerade die schlimmsten Kindheits-Traumata, dass wir aus ihnen in die kühnsten, wildesten und heilendsten Tanz-Träume springen können.

God bless our mess

Andreas

Ring the bells that still can ring
Forget your perfect offering
There is a crack in everything
That’s how the light gets in.

Leonard Cohen